Die Lehrprobe
Die wohl unangenehmste Situation für jede Junglehrerin oder jeden Junglehrer während der Ausbildung ist die Prüfungslehrprobe. Tage- ja wochenlang wird dieser Vormittag vorbereitet. Es wird geschnitten, geklebt und gebastelt, Geschichten werden ausgesucht, Modelle angefertigt, Tafelanschriften werden ausprobiert, der Zeitablauf wird gestoppt. Jeder Pädagoge, der das schon einmal durchlebt hat, weiß, das ist die Hölle. Tausend Kleinigkeiten müssen bedacht werden, die eventuell schief gehen könnten.
So nahte dieser gefürchtete Tag auch für eine Junglehrerin aus dem schönen Kahlgrund. Sie unterrichtete die erste Klasse, das erste Schulhalbjahr war vorbei, als sich die hohe Prüfungskommission ankündigte. Von nun an hatte die junge Frau keine ruhige Minute mehr, die Zahl der schlaflosen Nächte nahm zu. Aber als der ominöse Tag kam, hatte sie alles Bestens vorbereitet, die Kinder waren auf diesen Vormittag tagelang gedrillt worden. Es klopfte an der Klassenzimmertüre und herein marschierten der Rektor, sein Stellvertreter, der Seminarleiter und der Schulrat als Prüfer, um hinter der letzten Bankreihe auf den vorbereiteten Stühlen Platz zu nehmen. Die Schüler standen auf und grüßten, um dann ein sorgfältig einstudiertes Lied zu singen, was sich auch sehr ordentlich anhörte. Als sich die Klasse gesetzt hatte, schritt die Lehrerin zur Tafel und klappte beide Hälften auf.
„ Die Wiese hat viele schöne Blumen“ stand dort über beide Tafelhälften in sehr sauberen großen Buchstaben. Die Lehrerin deutete auf den Satz und gab damit den berühmten stummen Impuls, wie man das in der Fachsprache nennt. Nichts in der Klasse regte sich, auch die besten Schülerinnen und Schüler waren von dem Massenaufgebot an fremden Personen so eingeschüchtert, dass sie sich nicht zu melden getrauten. Doch da, plötzlich, in der letzten Bank ging ein Finger hoch. Die Lehrerin wurde kreidebleich, denn zu ihrem völligen Entsetzen hatte sich ausgerechnet der kleine Franz gemeldet, ein Schüler, der trotz eifrigster Übungen nicht in der Lage war, einen einzigen kurzen zusammenhängenden Satz zu lesen. Was blieb ihr aber anderes übrig als ihn aufzurufen, da die hohen Herren sie aufmerksam beobachteten.
Franz, als er aufgerufen wurde, stand auf und sagte mit lauter deutlicher Stimme: „Die Lehrerin hat einen hübschen Arsch!“ Die anderen Schüler kicherten ein wenig, die Lehrerin war wie vom Blitz getroffen. „Setz dich bitte wieder hin Franz, das stimmt nicht!“ sagte sie entschlossen, sah aber ihre gute Prüfungsnote schon langsam am Horizont verschwinden. Wieder deutete sie auf den Satz: Die Wiese hat viele schöne Blumen!“ Man konnte eine Stecknadel fallen hören, Panik stieg in der jungen Lehrkraft auf, als sich endlich doch noch ein Finger hob. Aber es war wieder Franz. „Jetzt kann ich meine Prüfung abhaken“, dachte sich die Lehrerin, aber was sollte sie machen, sie rief den Jungen erneut auf. Wie beim ersten Mal stand Franz auf, deutete nun sogar auf die einzelnen Worte an der Tafel und sagte mit fester Stimme: „Die Lehrerin hat einen hübschen Arsch!“ Der Verzweiflung nahe schüttelte die Lehrerin den Kopf und sagte sehr bestimmt: „Ich hab dir schon einmal gesagt, dass das nicht stimmt und nun setzt dich wieder hin!“ Noch ehe sie mit ihrer Lesestunde weiter machen konnte, bemerkte sie, wie Franz sich zu den vier Herren in der letzten Reihe umdrehte und laut sagte: „Wisstä, dess ess unfair, wann dä schon ni lääse kennt, sacht wenischtens nex Falsches vor!
Die Schmunzelgeschichten sind geschrieben von Rüdiger Hock.